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Kaum ein Thema beschäftigt die Menschheit so zeitlos wie die Zeit selbst. Schließlich rennt sie uns davon und ist ein knappes Gut geworden, das wir auch nicht bei Amazon nachbestellen oder in Laboren künstlich züchten könnten. Wir beschleunigen, fliehen und hetzen, wir optimieren und forschen. Wir begehren Zeit und wollen sie uns zum Knecht oder wenigstens nützlich oder sinnvoll machen. Und doch ist sie uns immer überlegen – ein Spiel, das wir nicht gewinnen können. Es erscheint uns wie ein Labyrinth, dessen Ziel oder Ende wir nicht sehen, dessen Weglänge wir nicht kennen und auch nicht die günstigste oder beste Route, die uns eine Vogelperspektive vielleicht verraten könnte. Begeben wir uns wie ein Vogel auf eine Zeit-Reise durch Wissenschaften, Geschichten und das eigene Leben. Es ist jedoch, wie es der „ewig Reisende“, aber letztlich dennoch leider verstorbene Roger Willemsen formuliert hätte: ein Anfang ohne Ende. Denn das Ende, das gibt es gar nicht. Alles auf Anfang. Von Henryk Balkow*
Meine Recherchen fingen im naiven Alter von gerade 6 Jahren unbewusst in einem Hörspiel auf einer Kassette an. Der kleine Drache „Tabaluga“ war in einer Höhle voller Lebenskerzen und sah den Stumpen, der noch von der Lebenskerze seines Vaters übrig war. Das war meine erste Begegnung mit dem Tod und gleichzeitig mit dem Leben – und mit der Zeit. Ein Dreiklang. Ich bin dankbar, dies durch Tabaluga kennengelernt zu haben und nicht durch einen tragischen Verlust. Natürlich sind meine Recherchen heute noch lange nicht abgeschlossen, aber sie haben ein paar entscheidende Gipfel hinter sich. Zum einen die Zeit im Kinder- und Jugendhospiz in Tambach-Dietharz, zum anderen hunderte Begegnungen, Bücher und Interviews in der Vergangenheit. Zuletzt – und das nahm ich zum aktuellen Anlass – eine Vorlesung vom Zeitbeschleunigungs-Forscher und Soziologen Hartmut Rosa. Dies vermag nicht der Weisheit letzter Schluss sein, wohl aber ein reicher Sammelkorb voller Gedanken (und Links), die der Anfang für eigene Gedanken sein können.
Zeit und Zeitgeist – unter dem Mikroskop der Wissenschaften
Die heute gängige Zeitrechnung, das wissen wir von den Historikern, haben wir vor allem Julius Caesar zu verdanken. Er legte im Jahr 45 n.Chr. den Julianischen Kalender fest, nach dem unser Jahr nun 365 Tage hat und der Monat 30 oder 31 Tage. Er sprach sich damals mit den Ägyptern ab, deren Astronomen auch von der Sonne und den Sternen aus begannen, die Welt zu erklären und zu strukturieren. Dann wurde mit den ersten Pendel- und Turmuhren im 17. Jahrhundert die Zeit immer genauer bis auf die Minute und sogar Sekunde. Die Taschenuhr hielt sich wacker bis ins 20. Jahrhhundert. Erst dann löste sie die Armbanduhr ab. Heute ist es oft das Smartphone, das uns die Uhrzeit verrät, aber mit der Digitaliserung unseres „Lebens 4.0“ auch immer mehr mit Apps intelligent hilft, unsere Zeit zu managen. Verlieren wir die Kontrolle über die Zeit?
Betrachten wir die Zeit mal weniger physikalisch, sondern eher geisteswissenschaftlich. Zeitformen kennen wir aus der Grammatik. Das menschliche Gehirn kann Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erkennen und sogar gestalten. Toll oder? Aber wie produziert man eine gute oder richtige Zeit? Wir können das Rad weit zurückdrehen bis zu den Anfängen der Philosophie. Mein Lieblingszitat stammt aus dem zweiten Jahrhundert vom Philosophen und einst römischen Kaiser Marc Aurel. In seinen Selbstbetrachtungen schrieb er
„Merke dir vor allem zwei Wahrheiten: Erstens, daß die Außenwelt deine Seele nicht berühren kann, sondern immer unbeweglich draußen steht, also Störungen deines inneren Friedens nur aus deiner Einbildung entstehen; und zweitens, daß alles, was du siehst, sich schnell verändert und nicht mehr sein wird. Und wie vieler Veränderungen Augenzeuge bist du nicht selbst schon gewesen! Die Welt ein ewiger Wechsel, das Leben ein Wahn!“.
Dabei lebte der nicht einmal in der Moderne. Da wusste der Sozialanthropologe Anthony Giddens schon eher, was die Konsequenzen der Moderne sind. Das beschrieb er bereits in den 1990er Jahren in seinem gleichnamigen Buch und prophezeite damals schon die „Entbettung von Strukturen“ durch die Loslösung von Raum und Zeit. Mit dem Soziologen Ulrich Beck beschrieb er zudem in der „Reflexiven Modernisierung“ die Errungenschaften und Gefahren, die teilweise gegeneinander mit der Modernisierung die Gesellschaft verändern – nicht nur positiv und mit offenem Ausgang. Kommunikationstechnologien waren damals zwar noch gar nicht so weit, aber beide ahnten zumindest, was da auf uns zukommt, wie beispielsweise die Flucht in die Hoffnung der Großstädte. Inzwischen muss man sich dafür aber gar nicht mehr bewegen. Das Internet macht es möglich, gleichzeitig überall zu sein, ohne einen Ort zu verlassen und doch zu flüchten. Wir müssen nirgends richtig ankommen und nichts richtig verlassen. Zudem sind wir auch physisch mobiler und sozial flexibler geworden. Das Vertrauen verlagert sich von der lokalen Gemeindestruktur und der Großfamilie zu Kleinst- und Singlestrukturen in fremden Großstädten. „Es ist ein weites Feld, Luise“, würde es jetzt bei Effie Briest heißen. Zweitausend Jahre Wissenschaft rund um Zeit abzuhandeln, würde aber zuviel Zeit kosten.
Gibt es eine Abkürzung? Ja. Bei meiner Suche nach Vorträgen bin ich auf ein Interview des Philosophen Richard David Precht mit dem Jenaer Soziologen Hartmut Rosa gestoßen. In den knapp 45 sehr interessanten Minuten gehen die beiden der Frage nach, woher der historisch hohe Zeitdruck der Menschen kommt. Wie es der Zufall wollte, ist einer unserer Jugendlichen aus der Projektreihe „Die Zeit ist eine Brücke“ in Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena eingeschrieben und so konnte ich mich als Gast in Hartmut Rosas Vorlesung seiner Beschleunigungs-Theorie der Gesellschaft setzen. Mit Ronny trat ich also die Zeitreise zurück in meine eigene Studentenzeit an und schrieb fleißig mit. Um Zeit zu sparen, hier eine kleine Verdichtung:
Die Zeit im Spiegel von Hartmut Rosa
Die Veränderung der Zeitstrukturen geht zunächst zurück auf eine Veränderung der Gesellschaftsstruktur. Während viele Menschen glauben, zuerst sei der technische Fortschritt da gewesen und dann die Beschleunigung, der irrt. Diese, heute massive Veränderung, setzte bereits im 18. Jahrhundert nach der französischen Revolution ein, als man noch mit Kutschen fuhr. Zuerst löste sich das feudale Machtsystem auf und schließlich auch die Macht der Kirchen. Der Bürger, der Mensch mit seinen Interessen und Wünschen bekam mehr Gewicht, vor allem im Humanismus. Damit wurde auch das Tempo individueller. Emile Durkheim und Niklas Luhmann sprachen von einer Differenzierung der Struktur und Persönlichkeiten. Max Weber und Jürgen Habermas sahen eine zunehmende Rationalisierung der Gesellschaft. Der Vernunftsmensch war geboren. Ziel war einer Beherrschbarkeit der Welt durch eine instrumentelle Vernunft. Heute kennen wir das als „Deadlines“, Fristen, Timetables und Dienstplänen. Der Mensch entwickelte Normen für Zeit, um immer schneller und effizienter Zeit zu nutzen. Er konstruierte Zeitstrukturen, taktete sein Leben. Die Technologien waren und sind hierfür nur die Instrumente. Der Wille und Wahn waren längst da. Hartmut Rosa stellt in seiner Beschleunigungs-Theorie dazu die These auf, dass Zeitstrukturen „Brückenelemente“ seien, welche kulturelle und systematische Aspekte synchronisieren. Mit anderen Worten: wir haben so viel Stress, weil wir so viel gleichzeitig am laufen haben und viele individuelle Zeitpläne synchronisieren müssen. Das stresste schon Goethe, Nietzsche, Marx und Engels. Goethe beschwerte sich, dass die Zeit davonrenne, ohne das etwas reifen könne. Nietzsche störte sich an dieser neuen Barbarei aus Mangel an Ruhe. Marx und Engels beklagten in ihrem kommunistischen Manifest, dass alles Ständische und Stehende verdampfe in einer ununterbrochenen Erschütterung und ewiger Unsicherheit. Das macht die Menschen natürlich zu treuen Konsumenten und hält die Produktionen am laufen. Das Verrückte ist: das war lange vor unserer Zeit – ist aber trotzdem noch brandaktuell. Der Zeitdruck scheint damals wie heute mit der Wahrnehmung, der Bewirtschaftung und dem Charakter der Zeit und Zeitstrukturen zusammenzuhängen, meint Rosa. Zwar haben wir heute andere Erfahrungen mit Beschleunigungen wie verschwindende Telefonzellen oder Plattenläden, aber auch Generationen vor uns haben solche Phänomene schon beobachtet. Aber irgendetwas ist trotzdem anders. Es ist mehr los in unserer Wahrnehmung, vieles vibriert gleichzeitig. Der Soziologe Georg Simmel erklärte das mit einem „Nervenleben“, das zunehmend mit Reizen geflutet wird. Wenn man in einem fahrenden Zug aus dem Fenster schaut, wirkt die Geschwindigkeit höher, wenn ein Panorama voller Häuser ist statt in einer weiten, leeren Landschaft. Richard David Precht nutzte diese Metapher gern für die Zeit-Wahrnehmung in seinem Buch „Die Kunst, kein Egoist zu sein“. Demnach sei Zeit vor allem eine Frage des Bezugspunkts. In einem stehenden Zug wirken Bewegungen außerhalb anders als in einem fahrenden. Mich erinnert das an meine Gartennachbarn. Ein altes, liebevolles, sehr frommes und freundliches Ehepaar. Ihr Garten ist wundervoll gepflegt. Trotz körperlicher Ermüdung immer noch tausendmal besser gepflegt als meiner. Ich habe ja nie Zeit für Gartenarbeit. Ich schreibe in dieser Zeit und sehe die Nachbarn fleißig in den Beeten. Sie machen alles langsamer, wie Cassiopeia in Michael Endes „Momo“. Aber sie kommen auch zum Ziel, vielleicht besser. Aber geht es immer ums schnell ankommen? Sie entschleunigen, verlangsamen die ablaufende Uhr, weil sie alles langsamer tun, während ich im Alltag der Hektik verfalle und immer mehrere Dinge gleichzeitig erledigen will. Deadlines. Wozu?
Ein paar von Professor Rosas Studierenden, die vor mir sitzen, schreiben gleichzeitig Skripte und Präsentationen für ihre Referate, andere schreiben via Whatsapp und Snapchat mit Freunden. Ein Auge blickt auf Rosa, das andere auf den Screen. Es ist die Gleichzeitigkeit von Zeit, die unsere Wahrnehmung von Stress verstärkt. Unser Gehirn hatte in der Evolution noch gar nicht genug Zeit, sich auf sowas einzustellen. Also bitte etwas Geduld…
Die Physik, so Rosa, habe für dieses Phänomen eine beinahe ökonomische Formel: es geht uns um eine Mengensteigerung pro Zeiteinheit. Technische Hilfsmittel wie das schnellere Auto, Züge und Flugzeuge, aber vor allem das Internet, E-Mail, Soziale Netzwerke, Apps, E-Commerce und nicht zuletzt die Digitalisierung unter dem Filmtitel „4.0“ sind dabei nur eine von 3 Triebfedern der Beschleunigung, so Rosa. Die zweite Triebfeder ist der soziale Wandel. Damit ist nicht nur wie eingangs beschrieben die Moderne und vielleicht Übergang zu Post-Moderne im allgemeinen gemeint, sondern konkret spürbarer Wandel, ständige Veränderung. Praxiserfahrung, Wissen über Alltagsdinge und Fachwissen, Assoziationen, Orientierung in einem Stadtviertel oder die Musik in den Charts – alles ist in einem chaotischen, reißenden Fluss. Der Zeitgeist scheint zu sprinten und man sieht irgendwann nur noch die Rücklichter oder spürt zumindest schon die Angst vor diesem Tag. Hartmut Rosa spricht von einer Dynamisierung der Gesellschaft. Der Zeitgeist ändert sich dabei nicht mehr von Generation zu Generation, sondern schon innerhalb eines Lebens in hohem Tempo. Immer mehr Beschäftigungsverhältnisse pro Leben, mehr LebenspartnerInnen, mehr Freunde, mehr Umzüge, mehr Organisationsformen usw. Nichts ist so beständig wie die Veränderung. Niemand behält mehr einen Job von der Ausbildung bis zur Rente, niemand behält dasselbe Haus oder seine Heimat und niemand dieselbe Ehefrau oder Ehemann. Viele warten nicht mal mehr aus Anstand mit der Scheidung, bis die Kinder aus dem Haus sind. Der Zeitgeist ist anders. Statt Großfamilien Altersheime und Kitas und Entertainmentpakete.
Daraus leitet Hartmut Rosa die dritte Triebfeder der Beschleunigung ab: die Beschleunigung des Lebenstempos. Explodierende Zahlen an Möglichkeiten, To-Do-Listen und Erlebnis-Episoden. Wir schreiben noch E-Mail und shoppen, während wir im Zug nach Berlin sitzen, wir nehmen das Smartphone mit aufs Klo, um nicht zu verpassen, was derweilen in der Welt passiert. Wir versuchen, Karriere, Familie und wachsende Freundeskreise unter einen Hut zu bringen, auf allen Hochzeiten mitzutanzen. Damit steigen aber auch Verpflichtungen und Erwartungen von außen, nach außen sowie an sich selbst. Das muss nun also mit den individuellen Zeitplänen von immer mehr Kontaktpersonen synchronisiert werden. Geht so langsam ein Licht auf? Das mag machbar sein, aber nicht für jedermann. Es entstehen Ängste, abgehangen zu werden, sozial abzusteigen, sich nicht zu verwirklichen. In einer Gesellschaft, in der die meisten Menschen schon in Komfortzonen geboren werden und alle physischen Grundbedürfnisse nach Maslow hinsichtlich Sicherheit, Wohnung und Nahrung gedeckt sind, haben sozialer Status und Selbstverwirklichung einen hohen Stellenwert. Schließlich läuft die Zeit davon. Zwar beschreibt der Anthropologe Yuval Noah Harari in „Homo Deus“, wie weit der Mensch bereits ist, nicht nur seine Umwelt zu zähmen und züchten, sondern auch der Sterblichkeit zu entkommen. Tatsächlich verdrängen wir dieses Thema aber erstmal und versuchen, mit Tinder, Speeddating, Skype, Alexa & Co. unser Leben zu effektivieren. Es entsteht Hektik, obwohl wir durch die Effizienz Zeit sparen. Warum? Weil wir möglichst viel schaffen wollen. Carpe Diem. Yolo. Was nun? Wir sind voller Freiheiten, aber gleichzeitig voller Zwänge im Kopf und im Hinterkopf: man könnte was verpassen. Je größer und bunter die Stadt, desto mehr Vibration der Alternativen und Möglichkeiten. Vielleicht zieht es deshalb wieder Menschen in soziale Bubbles, aufs Land oder nach Norwegen oder in einsame Hütten im Wald. Der Qual der Wahl entrinnen. Hartmut Rosa spricht von einem exponentiellem Wachstum der Menge an Dingen, die wir Getriebenen erledigen wollen oder anfangen. Aber selbst wenn wir Dinge in weniger Zeit schaffen, packen wir die gewonnene Zeit rastlos mit neuen Dingen voll. Die drei Triebfedern der Beschleunigung verhalten sich dabei wie der Kreislauf der Jahreszeiten. Befeuert wird das aber noch von weiteren Impulsen. Einerseits die Angst vor sozialen Verlusten, die er vergleicht mit dem Gefühl, auf einem rutschendem Abhang zu stehen.
Das kapitalistische Betriebssystem der Maximierung steckt zu tief in uns drin. Die Gier des Menschen als dessen Schwachstelle ist schon länger bekannt und gab den Religionen Auftrieb. Heute sind es zudem Konsum und Karriere. Niemand möchte von der Bedürfnispyramide wieder nach unten purzeln. Vielleicht ist es aber auch nur die Schwierigkeit, bei aller Entscheidungsfreiheit zwischen den vielen Optionen wählen zu müssen. Stattdessen möchte man lieber mehr anfangen und auf den Weg bringen, auch wenn das alles gut koordiniert werden muss und wir diese Kompetenz, Zeitmanagement, gerade erst beginnen zu lernen. Vielleicht braucht es Zeit und das erfordert Geduld. Beides ist rar. Schließlich glaubt kaum noch jemand an ein Leben nach dem Tod im Paradies oder eine Wiedergeburt. Das haben Wissenschaftler zerlegt. Man glaubt auch nicht mehr, dass die eigenen Kinder die Alten noch pflegen oder deren Lebenswerk fortsetzen. Alle werden Individuen. Alles und jeder hat seine Zeit. Hartmut Rosa erzählt in seiner Vorlesung von Marianne Gronemeyer, die schon in den 90ern dieses Phänomen in ihrem Buch „Das Leben als letzte Gelegenheit“ behandelte und der Moderne eine Antwort gab. Man akzeptiert die eigene Endlichkeit, aber will noch möglichst viel Hülle und Fülle bis dahin reinbringen. Aber geht Quantität über Qualität? Haben wir noch eine Moral für die Qualität, wie Zeit sinnlos zu verbringen ist? Aber das ist eine andere Wissenschaft. Die Philosophie, so Rosa, kann mit dem Forschungs-Thema „Zeit“ nicht so recht was anfangen. Außer Immanuel Kants Abhandlung zu Raum und Zeit in seiner „Kriktik an der reinen Vernunft“, dreht sich die Zeit bei den Philosophen im Kreis. Und wer versteht schon Kant? Es ist wohl wie mit dem Pudding, den man an die Wand nageln möchte – warum auch immer. Es gibt aber Teilaspekte der Zeit, die durchaus behandelt werden, wie schon vor 2000 Jahren bei Seneca, der sich viele Gedanken über das Glück machte, also eine glückliche Zeit. Der in Erfurt lehrende Philosoph Wilhelm Schmid hat sich diesem immer wichtigeren Thema des gelingenden Lebens gewidmet und es damit bis auf die Geschenktipp-Tische aller Buchhandlungen geschafft. Er wendet sich ab von der Maximierung des Glücks, sondern empfiehlt vielmehr, das Glück in seiner Fülle an Momenten, egal ob tief oder hoch fliegend, anzunehmen und nicht einer Glückshysterie zu verfallen. Hartmut Rosa hingegen würde für ein gelingendes Leben empfehlen, sich Resonanzbeziehungen so zu betten, dass man ausreichend Anerkennung und soziale Reflexionsachsen erfährt. Denn wer nicht wahrgenommen wird, der ist auch nicht da. Lieben und geliebt werden, das Leben ist einfacher, als man denkt.
Die Zeit in Kunst und Kultur
Kunst und Kultur sind wichtige Träger von Selbstkritik und Spiegelung einer Gesellschaft und ihrer Generationen und Epochen. In Verbindung mit modernen Medien haben sie zudem andere Möglichkeiten der Reichweite und Haltbarkeit. In der Online-Ausstellung „Lebt wohl meine Lieben – letzte Briefe aus dem Holocaust 1941-1942“ kann ich mir heute überall auf der Welt Briefe durchlesen von Menschen, denen das sehr plötzliche Ende ihrer Zeit bewusst wurde und was ihre letzten Worte an ihre Lieben waren. So schrieb die 24-jährige Ida Goldis vor ihrer Deportation nach Auschwitz:
„Lebt wohl, meine Lieben! Meine geliebte Mutter, mein guter Vater, Ihr wart der erste Sonnenstrahl, der mein Leben erwärmte…Ich bedaure aus tiefster Seele, das ich beim Abschied die Bedeutung des Augenblicks nicht erfasste, dass ich Euch nicht lange, lange betrachtet habe, damit sich Euer Bild tief in meine Seele einprägt, dass ich Dich nicht fest umarmt habe, ohne loszulassen.“
Viele Künstler haben sich mit der Zeit, vor allem ihrer Endlichkeit und ihrem Zeitgeist beschäftigt. Ob Fotografien, Gemälde, Skulpturen, Musik, Literatur oder Filme – Zeit und wie wir sie sinnvoll füllen, beschäftigt alle Künstler. Millionen. Denn auch sie leben trotz ihrer Werke nicht ewig. Nur wenige kann ich hier nennen, aber diese haben mich persönlich sehr berührt.
Das erste Buch, das mich gefesselt hat auf der Suche nach der verlorenen Zeit, war Michael Endes „Momo“. Die „grauen Herren, die die Zeit stehlen“ und Momo einsam machen, werden von ihr und Freunden gejagt. Toll. Viele Kinderbücher greifen das Thema Zeit indirekt sehr gut auf, darunter Der Kleine Prinz oder Herr Janosch und seine Tigerente. Tabaluga erkennt die „Zeichen der Zeit“ und dass alles seine Zeit hat und nur die Liebe über die Zeit siegen kann. Als Tabalugas Vater stirbt, erlischt die Flamme, aber die Liebe bleibt für immer.
Dann sind da herausragende Filme wie „Million Dollar Baby“, in der eine Mitte-30-Jährige alles für ihren großen Traum riskiert, Profiboxerin zu werden. „Die Magie, alles zu riskieren für einen Traum, den außer Dir niemand kennt“. Für sie ist Zeit relativ im eigenen Tempo, weil alles fokussiert ist wie ein Scheinwerfer auf ihren persönlichen Lebens-Traum. Yolo – you only live once. Dann ist das der Aussteiger in „Into the wild“, der sich von allen gesellschaftlichen Konventionen, Erwartungen und Zwängen verabschiedet und wieder frei wie ein Kind die Welt, vor allem die Natur entdeckt und damit auch die Zeit aus dem Zahnrad der Effizienz und Moderne entkoppelt. Das macht, wenn auch sehr unfreiwilllig, eine Frau im mittleren Alter im österreichischen Film „Die Wand“ nach dem Buch von Marlen Haushofer. Wie unter einer unsichtbaren Glocke ist die Protagonistin auf einer Alpenhütte gefangen mit einem Hund und muss völlig entschleunigen und sich letztlich mit sich selbst auseinandersetzen, weil es keine Zerstreuung und Ablenkung mehr gibt. Im Film „Wie im Himmel“ zwingt einen ehrgeizigen, erfolgsbesessenen Dirigenten ein Herzinfarkt zur Entschleunigung. Aus einem sechs Jahre gefüllten Terminkalender wird der Totalausstieg und Rückzug in das kleine schwedische Dorf, aus dem seine alleinerziehende Mutter mit dem sonderbaren Jungen mit der Geige wegzog. Zurück in der Dorfgemeinschaft lernt er wieder einen langsameres Tempo, aber dadurch auch wieder Nähe zu Menschen und Liebe. Den Tod gibt es nicht, nur die Erfüllung, wenn man Menschen liebt. Das ist Romantik pur – eine der besten Erfindungen des Menschen ist die Kunst. Sie bietet Schönheit, die die eher wenig bedeutsame kosmische Existenz vergessen lässt. So zum Beispiel in vielen Songs von „Sleeping at last“ wie in dessen Lied „Saturn“. Eine Ode der Dankbarkeit an die simple Tatsache, dass wir existieren dürfen in dieser schönen Welt. Auch wenn wir nur ein kleiner Funke sind, der nach kurzer Zeit verglüht, können wir doch eine gewisse Zeit hell und wundervoll leuchten. Wenn man will, findet man in der Kunst sehr viele Lektionen, wie Entschleunigung geht und wie schön und gut die Alternativen aussehen und klingen können. Wie im Film braucht es aber manchmal heldenhaften Mut. A propos Medien…
Die Rolle der Medien
Auch wenn die Medien in Hartmut Rosas Leben eine große Rolle spielen, waren sie in seiner Beschleunigungs-Theorie-Vorlesung bis auf die Smartphones und Laptops einiger Studierenden sozusagen „offline“. Meiner Ansicht nach sollten sie aber nicht fehlen. Waren Medien und insbesondere Journalisten einst noch Chronisten ihrer Zeit, Erklärer und Meinungsmacher, dienen sie heute vor allem ökonomischen Zielen. In der Verkaufspsychologie einer kapitalistischen Wirtschaft stimulieren Medien den Konsum vor allem durch Begehren und Unzufriedenheiten, die sie in Zielgruppen wecken und dann die passenden Angebote haben. Werbung und ihre Macher sind äußerst intelligent, manipulativ und technologisch hervorragend ausgestattet. Die gesellschaftskritische Zeichentrickserie „Southpark“ widmete der personalisierten Werbung eine ganze Staffel. Das Fatale ist, die schier grenzenlose Wahl an Vergleichen und Möglichkeiten. Damit verbunden ist die „Qual der Wahl“, wie sie der Psychologe Barry Schwartz in diesem Zusammenhang nennt. Medien verändern Normen. Was wir als attraktiv oder zu dick empfinden, welche Autos oder Anlageformen wir bevorzugen, ob wir mit unserer aktuellen Freundin zufrieden sind. Alle 11 Minuten verliebt sich ein Single auf Parship. Vermutlich nicht nur Singles. Es gibt immer noch etwas besseres, nie kann unser Herz ruhen. Werbung bedient und schürt den Opportunismus seiner Nutzer. Eine Moral gibt es nicht mehr. Durch das ständige Vergleichen, können und sollen wir nie zufrieden werden. Dann sind wir gute Konsumenten für Kosmetikprodukte, Fitness-Studio, Mode, Luxus-Lebensmittel zur Selbstbelohnung für das viele Rackern, Autos oder Dating-Webseiten. Zu den Medien zählen nicht nur journalistische Formate und die Werbung, sondern auch Unterhaltungsmedien und Social Media. In sozialen Medien sehen wir ständig, was andere mit ihrer Zeit anfangen, wohin sie reisen oder was sie erleben oder essen, wen sie lieben, auf welches Konzert sie gehen. Wir messen uns mit anderen in der effektiven und reichen Zeitnutzung. Aber nicht nur das. Zunehmend kämpfen junge Menschen mit der Sucht nach Facebook, Instagram etc. oder dem Binge-Watching von Serien oder verlorener Zeit in Computerspielen.
Einerseits suchen wir die Zerstreuung, andererseits ist das die Gefahr der Sucht dieser süßen Wirklichkeitsflucht wie bei Drogen oder Alkohol. Und so zerrinnt uns die Zeit schnell in den Fingern und nichts bleibt davon. Wir sprechen inzwischen von der Vermittlung von Medienkompetenz, aber haben die Größe und Bedeutung dieses Felds noch gar nicht realisiert. Höchste Zeit. Wie so oft in den Medien und bei der Wahrheitsfindung, hat die Medaille bekanntermaßen mindestens zwei Seiten. In diesem Fall noch eine erfreuliche. Medien können gleichzeitig etwas entwaffnendes haben, weil wir auch alternative Lebenswege sehen, die einen anderen Umgang mit Zeit aufzeigen und Mut machen können, das Hamsterrad zu verlassen und eigene Wege zu entdecken. So beispielsweise eine Schulfreundin von mir, die heute als freie Autorin für Zeitungen arbeitet und entdeckt hat, dass sie, Greta Taubert, „Zeitmillionärin“ ist und daraus ein Buch und einen Lebensweg mit ihrer Familie bahnte. Mich besuchte sie vor kurzem spontan auf meiner Hütte mit ihrer kleinen Familie, mit der sie die Heimat besuchte und im Wald Beeren sammelte. Und wie gewöhnlich brachte Greta das mit, was sie millionenfach hat und nimmt: Zeit. Die Zeit verging wie im Flug, es gab so viel zu erzählen. Alles andere außerhalb dieses Gartens war nicht eingeladen. In den französischen Pyrenäen gibt es ganze Dörfer voller Aussteiger rund um den Pic Bugarach. Und wer sehnt sich nicht nach dem Auswandern nach Norwegen. Das Bewusstsein, dass da etwas falsch läuft in diesem Kreislauf, wächst. Ausbrechen wie in „Walden“, dem Buch zu „Into the wild“. Fehlt nur noch der Mut.
Die Zeit ist (m)eine Brücke
Bis zu diesem Tag hätte ich nicht im Traum daran gedacht, dass es einen Ort gibt, an dem die Zeit wirklich ausgesetzt ist, die Beschleunigung ausgekuppelt wird. Das Kinder- und Jugendhospiz Mitteldeutschland liegt in Tambach-Dietharz mitten im Thüringer Wald an einer alten Talsperre. Die Staumauer nennen wir wegen ihres Aussehens „die Brücke“. Viele gute Gespräche hatten wir hier, Auszeiten. Diese Brücke war und ist auch die Brücke zu anderen Menschen, Welten, Leben und damit Horizonten. Viele Begegnungen, Freundschaften nahmen hier ihren Anfang oder bekamen neue Saiten. Deshalb haben wir die Projektreihe, in denen gesunde und todkranke Jugendliche gemeinsam der Welt Blogs, Filme, Hörspiele und Musik hinterlassen, umbenannt. Aus „Yolo“ wurde „Die Zeit ist eine Brücke“. Hier endete meine Jagd nach der verlorenen Zeit. Ich konnte sie zähmen wie der Kleine Prinz den Fuchs. Die erste Brücke baute Marion, die zu dieser Zeit das Kinderhospiz, das sie mit ihrem Team aufbaute und 2010 eröffnete, voller Liebe und Energie leitete. Ich dachte zunächst, mich erwartet eine Art Kranken-Endstation voller Traurigkeit und Tod. Was für ein Irrtum! Ein Haus voller Leben und Liebe, ohne Hast und Zwang. Jedesmal, wenn ich mit meinen Jugendlichen und Freunden dieses Portal betrat, nahm Marion, ihre Mitarbeiter und die Familien den Zeitdruck von mir ab wie einen Mantel und er hing dann an der Garderobe. Irgendwann holte ich den Mantel nicht mehr ab, wenn ich ging. Wer mich kennt, weiß, wie rastlos und unruhig ich war. Nie hätte ich länger als eine Stunde das Handy weggelegt. In Tambach-Dietharz blieb es im Auto. Was im Internet passierte, war mir ebenso so egal wie das, was gerade in Erfurt sonst in der Welt passierte. Ich bin angekommen, ich war da. Ich war raus. Die Welt ging trotzdem nicht unter. Wahnsinn. Dieser Ort hatte Magie. Es war so befreiend wie Heilig Abend in der Kirche, wenn sich die stressige, konsumgetriebene Adventszeit verwandelte in diese besinnliche, liebevolle Zeit mit Freunden und Familie ohne Hektik und wenn alle Erwartungen nach der Bescherungen von der Seele fallen und nur noch der Gemeinsinn bleibt.
Seit zwei Jahren bin ich oft dort und bei den Familien aus den 8 Projekten. Viel habe ich in dieser Zeit persönlich über Zeit, Beschleunigung und Entschleunigung gelernt. Zum einen: Geduld. Bei den Familien ist wegen der körperlichen Einschränkungen der Kinder oder Jugendlichen alles nicht so einfach. Ausflüge, Spiele, alles, was für uns selbstverständlich ist, ist eine Grenze und kostet Zeit oder geht einfach nicht. Viel mehr hat mich aber die Geduld mit den gesunden Jugendlichen herausgefordert. Oft wurde abgesagt, wenn wir uns mit den Kids aus dem Kinderhospiz treffen oder sie besuchen wollten. Keiner hatte Zeit. Die gemeinsamen Medienprojekte, die wir angefangen haben, zogen sich immer länger. Kein Ende in Sicht. Nach 20 Jahren Jugendarbeit in dem Medienverein warf ich dann auch das Handtuch. Jugendliche, die nie Zeit haben. Und ich habe sie zusammengebracht mit Jugendlichen, die nicht mehr so viel Zeit haben. Was hatte ich getan. Es war niederschmetternd. Demütig entschuldigte ich mich bei den Eltern im Kinderhospiz für die Unzuverlässigkeiten. Als die Mütter voller Verständnis sagten „Henryk, wir vertrauen Dir“, hätte ich weinen können. Das war die Bremse! Scheitern und Grenzen eingestehen ist wichtig, gegenseitiges Verständnis auch. Es ist nicht alles maximier- und machbar, vor allem nicht sofort. Nur, weil in unserer Welt alles online instant und sofort möglich ist, müssen und können wir dieses Tempo nicht auf unsere reale Welt übertragen. Die Wirklichkeit ist voller Überraschungen, nicht alles kontrollierbar, steuerbar, planbar…Und siehe da, wie aus heiterem Himmel, hatten plötzlich Jugendliche Zeit und kamen sogar am eigenen 18. Geburtstag extra noch weit gefahren zum 18. Geburtstag eines der erkrankten Kinder.
Solche Momente gab es dann einige und ich merkte, gerade in Vorhaben ist die Dimension Zeit essenziell und wie Goethe schon feststellte braucht Reife Zeit. Mir fehlte wohl die Geduld. Dann lernte ich, dass es gar nicht darum geht, mit den Projekten fertig zu werden. Vielmehr ist es, wie der Philosoph Alan Watts („Life is not a journey“) mit dem Tanzen und dem Pianospielen beschrieb. Es geht im Leben nicht darum, immer die nächste Stufe, Level und dann das Finale zu erreichen, sondern das Spielen am Piano oder das Tanzen zu genießen – im Moment. Oder wie der großartige Dirigent und Philosoph Sergiu Celibidache („You don‘t do anything. You let it evolve.“) bezeichnete: jedem Anfang wohnt gleichzeitig das Ende inne. Alles ist einmalig und ewig im Moment. Es geht nicht immer um Ziele und Quartalszahlen. Momente lassen sich auch mit Speichermedien nicht festhalten. Und es gibt nicht nur gute Momente. Auch die schlechten gehören zum Leben. Das weiß ich nicht von Wilhelm Schmid aus seiner Glücks-Literatur im Geschenkformat. In einem Interview mit einer der letzten Divas, der italienischen Schlagersängerin Milva, fragte ich mal angesichts ihrer Abschiedstournee, was für sie Glück sei. Ich war noch ein junger Reporter, saumäßig auf das Interview vorbereitet. Diese Frage aber war ihr wichtig und mir geht die Antwort seit diesem Tag vor fast 15 Jahren nicht mehr aus dem Kopf. Milva ließ sich die Antwort nach einer dramaturgischen Pause in ihren langen italienischen Gewändern und mit großem Sonnenhut langsam auf der Zunge zergehen wie einen guten Chianti.
„Junge, es gibt kein Glück. Das Glück ist nicht von dieser Welt. Es gibt nur glückliche und unglückliche Momente. Nimm sie so, wie sie kommen. Akzeptiere sie so und koste sie aus, im guten wie im schlechten“.
Jedem Moment entspringen neue alte Zeiten. Das ist eine Frage der Einstellung und eine Frage der Wahrnehmung. Beides beginnt bei jedem selbst.
Alan Watts & David Lindberg – Why Your Life Is Not A Journey from David Lindberg on Vimeo.
Die nächste Lektion erhielt ich durch Computerspiele und Serien. Die Jugendlichen im Kinderhospiz spielen ziemlich viel Zeit Computerspiele oder schauen Animé-Serien wie Swod Art Online. Als Nutzenmaximierer, wie wir aufgewachsen sind, würden wir das als Zeitverschwendung verurteilen. Nimmt man sicher aber die Zeit, diese Welten zu verstehen, geht ein Licht auf. In den Serien und Computerspielen erleben die Jugendlichen Abenteuer, die ihnen wegen ihrer körperlichen Einschränkungen sonst verwehrt bleiben. Ich werde nie den Moment vergessen, als Lennart und Moritz mit dem an Muskeldystrophie Dychenne erkrankten Simon in der Bibliothek des Kinderhospizes am Entwurf ihres Drehbuchs für einen Kurzfilm über Wirklichkeitsflucht saßen. Simon und Lennart, die beide selbst viel zocken, lernten sich gerade erst kennen. Simon erklärte seine Welt und was ihm Computerspiele bedeuten. Seine Eltern verstehen das nicht. Sie schauen auf den Bildschirm und sehen das Wort Zeitverschwendung. Simon sagt, er kann dort das machen, was er sonst im Leben nicht kann, wie Auto fahren oder Heldenabenteuer bestreiten. Freunde habe er ja nicht viele, die haben meistens keine Zeit, weil sie ja mit anderen Dingen beschäftigt sind, die die Pubertät und ein gesunder Körper eben so hergeben. Ich musste weinen und unauffällig mit meiner Kamera den Raum verlassen. Ein berührender Moment voller unvergesslicher Tiefe.
Wenn wir im Kinderhospiz sind, wo die Familien übrigens meistens nur Urlaub machen (nur wenige befinden sich im so genannten finalen Stadium, aber mehr dazu in den Videodokumentationen auf dokupark.de), dann spielen wir immer das „Werwölfe“-Spiel. Da können alle barrierefrei mitmachen, auch im Rolli und mit körperlichen Einschränkungen. Wir nennen uns inzwischen den „Werwölfe“-Clan, weil mit der Zeit die Jugendlichen und Familien über die Projekte hinaus zu einer Art Clan zusammenwachsen. Und dann vergessen wir jedes Zeitgefühl. Gerade an diesem magischen Ort an dieser alten Talsperre im Thüringer Wald in diesem Haus voller Liebe und Leben geht die Zeit ihren eigenen Gang. Vor gut einem Jahr war ein Autor der ZEIT zu Gast. Das war mein nächstes Schlüsselerlebnis. Ich selbst hatte mich vor ein paar Jahren vom tagesaktuellen Journalismus verabschiedet als der unter die Räder der Effizienz geriet. Dann kam Björn Stephan aus Hamburg („Uhren sind moderne Diktatoren“) in dieses kleine verschlafene Nest in Thüringen. Er reise schon am Vorabend an, damit er ganz entspannt am Morgen aus dem Hotel zu unserer Projektgruppe ins Kinderhospiz kommen konnte. Und dann war er einfach da und dabei, ohne Zeitdruck, ohne Koordination. Er ließ sich auf den Ort, die Menschen und die Momente einfach ein, backte mit den Eltern Pizza, philosophierte, spielte und phantasierte mit den Kids. Völlig entspannt. Er war einfach da bei Lea und ihren Freunden und bekam die viel bessere Perspektive als ein Journalist in Hektik, der getakteten Produktionszwängen folgt. Er kam als Reporter und er ging als Freund.
Wir müssen nicht alles beschleunigen, effektivieren, skippen, liken, followen. Wir glauben, das wäre ein alternativloses Hamsterrad, als hätten wir keine Freiheiten, Zeit selbst ein- und zuzuteilen. Das ist aber ein Irrtum, das habe ich im Kinderhospiz gelernt und von einer bewundernswerten Amerikanerin, die ich beim Wandern in den Pyrenäen kennengelernt habe. Die 66-Jährige Talie hat in ihrem Leben drei Unternehmen aufgebaut und wieder verkauft und geht jetzt im Ruhestand allein die Welt bereisen, seit Jahren, ohne Zeitdruck. Ihr Lieblingssatz prägt mich wie eine ständige Vibration:
„You have a choice“.
Stimmt. Es geht darum, sich seiner Möglichkeiten bewusst zu werden und die Kontrolle wiederzubekommen. Zeit kann man zudem auch anders wahrnehmen, zum Beispiel in der Abgeschiedenheit der Berge oder am Meer. Nach drei Burnouts deckte sich das mit meinen persönlichen Erkenntnissen. Natürlich sind Entscheidungen auch mit Risiken behaftet oder zumindest einem Preisschild. Wir denken aber zu oft, eine Entscheidung verändert gleich das ganze Spiel, dabei ist es nur eine Runde. Wir sind getrieben von Verlustängsten. Aber das ist nur im Kopf. Ein alter Freund von mir, der zufällig genauso wie der Freund neben mir in der Beschleunigungs-Vorlesung Ronny heißt, hat mal etwas getan und kommentiert, was seitdem in meinem Kopf, aber auch in meinem ganzen Freundeskreis immer wieder die Runde macht und neue Kreise zieht. Ronny, auch „Chillfried“ genannt, ist ein urgemütlicher und angenehmer Zeitgenosse, der ein absoluter Computer-Nerd war, aber auch das große Herz eines Kindes hatte und hat. Als er nach dem Studium endlich in einer erfolgreichen Software-Firma einen guten, festen Job hatte, verschwand er plötzlich. Alle machten sich Sorgen, niemand hörte von ihm. Nach einem halben Jahr war er plötzlich wieder da, zurück aus Spanien. In einem lichten Moment stellte er sich damals spontan an die Autobahn und fuhr per Anhalter mit einem Trucker nach Spanien. Keiner wollte das verstehen, hatte er doch so einen tollen Job bekommen und gibt seinem Gaul die Sporen. Da sagte Ronny nur mit kindlichem, naivem Gesichtsausdruck
„aber ich habe doch nur 70 Sommer“.
Kein Satz, der je mein Trommelfell erreichte, hatte solch eine Fallhöhe und Tiefe. Und auch der andere Ronny neben mir in der Vorlesung hat mich gelehrt, mein Tempo zu überdenken. Nicht nur im Projekt mit dem Kinderhospiz, auch sonst privat ist Ronny immer schwer über Handy oder soziale Netzwerke erreichbar. Erst irritiert, manchmal etwas angesäuert hatte ich das als Unzuverlässigkeit zwischengespeichert. Als ich mich an meinem 36. Geburtstag zurück auf meine kleine Fuchsbau-Alm im Thüringer Wald verzog und dort als erstes Bauprojekt meines Lebens eine Holzterrasse baute, kam Ronny ein paar Tage vorbei und half mir. Das Handy war Nebensache. Genauso, wenn er mit im Kinderhospiz war. Ronny ist dort, wo er bei seinen Freunden oder der Familie ist 100 Prozent da, nicht anteilig in digitalen Netzwerken. Ronny ist einfach da und nimmt sich Zeit. Deswegen ist er oft nicht erreichbar. Heute habe ich davor höchsten Respekt. Durch Ronny, Marion und die Familien im Kinderhospiz habe ich etwas gelernt, was mich keine Vorlesung und kein Buch lehren kann. Ich habe gelernt, was Dasein bedeutet und welchen Wert es hat. Nicht im Sinne des Philosophen Heidecker, sondern im Sinne eines sozialen Menschen mit durchschnittlich 70 Sommern. Die Geschwindigkeit muss sich dem Bedürfnis nach Dasein anpassen.
Die Kunst ist es, für sich ein Tempo und Pausen zu finden, mit dem man viel von dem schafft, was persönlich Sinn macht, was sich richtig anfühlt, was Freude macht und Freude bereitet (Resonanz). Wird das Tempo zu hoch, spürt man nichts mehr bewusst wie in einem rasenden Auto auf der Autobahn. Zeit haben, vom Moment wirklich berührt zu werden. Als ich zur Entschleunigung und Zivilisations-Entschlackung mit Freunden 5 Tage den Rennsteig bewandert habe, empfing mich kurz vor dem Ende auf einem Grenzstein ein Goethe-Zitat zur Aufheiterung auf dem harten Marsch: „Nur wo Du zu Fuß warst, bist Du wirklich gewesen“. Dazu gehört auch die Rast…und Schmerzen. Pausen helfen beim Reflektieren und dem Wiederentdecken, was wirklich wichtig ist. Daraus erst, nicht aus dem Rasenden, ergeben sich bewusste Erinnerungen, von denen wir noch bis an unser Lebensende zehren. An meiner großen Fotowand hängt ein Zitat des deutschen Autoren und Pädagogen Jean Paul:
„Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können“.
Unvergessen bleibt für mich der Moment, als Lisa und Andrei in der randvollen Erfurter Reglerkirche den Song „I call my name“ uraufführten. Gemeinsam schrieben sie diesen Song im Kinderhospiz über das, was ihnen im Leben wichtig erscheint. Gänsehaut pur. Das brennt sich tief in die Seele, aber nicht wegen der Fotos. Smartphones und Instagram – hin oder her. Eines Tages werden diese gespürten Erinnerungen immer wertvoller sein, wie die wichtigste Investition des Lebens. Denn die Erinnerungen sind ein wesentlicher Bestandteil der Seele und einer gewissen Unsterblichkeit. Also hütet man seine Erinnerungen und die Erinnerungen, die man hinterlässt besser wie einen heiligen Gral. Es geht also nicht um eine quantitative Maximierung an Momenten und Zeit, sondern um eine Qualität, deren Güte jeder für sich im Abenteuer Leben erst entdecken muss. Eine Zeit, die persönlich berührt, weil man großartige Menschen um sich hat oder einen Traum verwirklicht.
Was richtig ist und was falsch, können wir von unserer Gemeinschaft, in der wir leben, lernen. Dafür haben wir zwar nur ein Leben, aber viele Versuche. Und soziale Gemeinschaften wechselt man nun mal heute häufig oder kreuzt sie. Allgemeine soziale Regeln und Normen für Geschwindigkeit und Zeit gibt es nicht mehr, seit die Wissenschaft die Religionen und die Demokratie den Feudalismus abgelöst hat. Aber es gibt Gefühle und Verletzungen. Ich hatte persönlich die schlimmsten Krisen im Leben nicht, wenn ich etwas oder jemanden verloren hatte, sondern, wenn Freunde keine Zeit mehr hatten – wie bei „Momo“, deren Freunde wegen der grauen Herren, die die Zeit stehlten, auch keine Zeit mehr hatten. Dasein sollte keine Einbahnstraße sein. You have a Choice, wie Talie sagen würde. Und so bleibe ich persönlich immer im Aufbruch begriffen und auf Suche. Dank sehr eindrucksvoller Begegnungen, Menschen und Freunden mit einem ständig wachsenden Bewusstsein für Entscheidungen – auch jener, mal vom Gas zu gehen. Pause. Aufnehmen, einatmen, genießen, mitreden, mitmachen, reflektieren, reifen – alles ohne Hast. Dasein. Oder einfach in den Bergen beim wandern oder Skilaufen alle anderen Vibrationen der Außenwelt mal ruhen zu lassen. Der von der Raserei seiner Zeit geplagte Goethe stellte ja auch oben im Thüringer Wald fest, „über allen Wipfeln ist Ruh‘“. Keine Spur mehr von den Vibrationen des Alltags, den Deadlines, Erwartungen, unerledigten Dingen, Möglichkeiten und Zwängen. Alles ist reduziert auf das wesentliche. Einatmen, ausatmen, Bewegung, Essen, Trinken, Geselligkeit, Gespräche mit Gott, sich selbst oder woran man so glaubt, Dasein. Die digitale, zusätzliche Außenwelt ist auf „Off“.
Die Zukunft der Zeit
Hartmut Rosa betont noch, dass er auch nicht der Experte für Entschleunigung sei, auch wenn er in den Medien oft danach gefragt werde. Er ist aber nicht Meister der Zeit, sondern ein Kenner der Beschleunigung. Auch sein Postfach ist voll und auch ihm rast die Zeit davon und in den letzten Atemzügen seiner auf 90 Minuten begrenzten Vorlesung würde er gern als Ausblick noch das Grundeinkommen anklingen lassen. Wie ein Hoffnungsschimmer flammt es noch einmal kurz auf, dann ist die Zeit vorbei. Ich eile wieder ins Parkhaus zu meinem Auto, düse zurück zu meiner eigenen Vorlesung, wo ich eine Spätschicht einlege, um die liegengebliebene Arbeit durch meine Zeitverschiebungen zu erledigen. Ein ganz normaler Tag in der Moderne, aber ein Tag mit vielen Entscheidungsmöglichkeiten. Und natürlich hat die Moderne, wie Anthony Giddens sie beschrieb, nicht nur eine Marschrichtung. Wir haben Entscheidungsspielräume. Wir können uns als Gemeinschaft entscheiden, wie früher den Subbotnik als gemeinsamen Arbeitseinsatz mit Geselligkeit für den Samstag an oberste Stelle unseres Terminplans zu setzen. Wir können „downshiften“ mit Kunsthandwerk, Büchern, Sport oder Musik, Aussteiger auf Zeit werden, wir können uns Zeit für Meditation einräumen oder Aktivitäten im Verein, der Kirche oder mit Freunden. Selbst die Gesellschaft als Ganze – auch wenn Margret Thatcher, wie Hartmut Rosa betonte, nicht an die Existenz einer solchen glaubte – kann wie einst den Zivil- oder Wehrdienst, zeitgemäß einen Sozialdienst einführen, indem jeder junge Mensch nach der Schule erstmal eine Zeit der Gesellschaft oder Gemeinschaft etwas zurückgibt, die ihn gesund, sicher, froh und mit Chancen aufgezogen hat. In dieser Zeit ordnen sich viele Dinge, die vorher an Reizen, Informationen, Zwängen und Hormonen den jungen Geist durchflutet haben. Das hilft sicher auch, mit seiner Zeit etwas besseres anzufangen und überhaupt herauszufinden, was das bessere eigentlich genau ist. Time is now.
Viel Glück bei der Suche und beim Ausmalen. Nimm Dir die Zeit, die es braucht und genieße Happen für Happen. Cèst la vie. Bon appetit! Oder wie Laura-Jane aus unser Projektreihe sagen würde: „Das Leben ist zu kurz für schlechten Kaffee“ (Doku).
*Henryk Balkow ist ein Autor und Medienpädagoge aus Erfurt. Als 1980 in Thüringen Geborener erlebte er die gesellschaftliche Transformation und nahm als Journalist auch den Medienwandel mit. Als Jugendlicher begann er, für Schülerzeitungen, dann Tageszeitungen und später Fernsehnachrichten und Nachrichtenagenturen zu arbeiten. Nach seinem Studium der Staatswissenschaften und Kommunikationswissenschaften an der Universität Erfurt begann er nebenberuflich an der Friedrich-Schiller-Universität Jena seine Promotion in der Sozialen Netzwerkanalyse und dem Kooperationsverhalten von Menschen. Hauptberuflich ist er selbstständig als Hochschullehrer an mehreren Universitäten, Moderator und Medienproduzent bei Feuerköpfe – die Marke der Medienmacher mit der Spezialisierung auf Neue Medien. Im junge medien thüringen e.V., der ihn als jungen Journalisten förderte, arbeitet er bis heute ehrenamtlich als Medienpädagoge. Sein letztes Projekt ist „Die Zeit ist eine Brücke“. Dieser Essay ist ein kostenloser Auszug aus dem 2018 erscheinden Buch zur Projektreihe.
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